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«Der Staat kann nicht alle glücklich machen. Er kann höchstens die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Gelegentlich auch durch Prävention.»

Ausgabe Nr. 96
Jan. 2013
Ethik und Public Health

Interview mit Georg Kohler. Welche Rolle spielt das Gut Gesundheit in unserer Gesellschaft und wie wird es gerecht verteilt? Welche Verantwortung trägt der Staat, welche das Individuum? Wo liegt der Unterschied zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit, wo sind die Grenzen des Wünschbaren, Machbaren oder Finanzierbaren und wann kommt die Solidarität zum Tragen? Ein «spectra»-Gespräch mit dem emeritierten Zürcher Professor für Politische Philosophie.

spectra: Wie viel Gesundheit braucht der Mensch?

Prof. Dr. G. Kohler: Das hängt davon ab, was man unter Gesundheit respektive Krankheit versteht. Die einen sagen natürlich, wir wollen so viel Gesundheit wie möglich. Bei diesen ist der Begriff der Gesundheit stark mit dem Ideal der Vollkommenheit assoziiert; alle natürlichen Gebrechen und Unvollkommenheiten will man beseitigen, man negiert sozusagen die Endlichkeit des Menschen. Andere sagen: «Auf jeden Fall genug.» Die Frage ist, was heisst genug und wer entscheidet, was genug ist?

«Je mehr wir mit technischen, wissenschaftlichen und finanziellen Mitteln in die Natur eingreifen können, desto mehr Entscheidungen müssen wir treffen und desto politischer wird der Gesundheitsbereich.»

Hier kann ich nur sagen: Je mehr wir mit technischen, wissenschaftlichen und finanziellen Mitteln in die Natur eingreifen können, desto mehr Entscheidungen müssen wir treffen und desto politischer wird der Gesundheitsbereich. Aber wer trifft diese Entscheidung? Erstmal hoffentlich die Vernunft und das Mitgefühl, schliesslich aber werden die Entscheidungen in der Politik – oder im freien Markt – gefällt. Aber man kommt nicht umhin, sich zu entscheiden, wenn Optionen da sind.

Wenn das «Genug» definiert wird, gibt es auch Grenzen. Wie nehmen Sie den Diskurs um diese Grenzen in unserer Gesellschaft wahr?

Eigentlich überhaupt nicht. Es gibt sehr viele verschiedene Interessengruppen und die Interessenlage ist sehr unübersichtlich. Es gibt Patienten, Ärzte, Krankenkassen, Pensionskassen, Spitäler, Parteien, die Pharmaindustrie und andere Wirtschaftsakteure, die ein Interesse daran haben, dass die Menschen vom Gut Gesundheit konsumieren. Und es gibt Staatsorgane wie das Bundesamt für Gesundheit, quasi die staatlich-administrative Macht. Auch Verwaltungen haben Macht und Eigeninteressen; eine Bürokratie will sich immer selbst erhalten. Die Komplexität der Interessen erschwert es, die Frage überhaupt zu stellen. Sie ist vielen zu philosophisch und abstrakt. Wenn man sie aber auf konkrete Sachverhalte bezieht, beginnt schnell der Streit und alles verheddert sich. Ich bin der Meinung, dass man die Frage nach den Grenzen des Wünsch- und Machbaren unbedingt stellen soll.

Was kann die politische Philosophie dazu beitragen?

Sie kann daran erinnern, dass viele gesellschaftliche Probleme mit der Unsicherheit von Begriffen zusammenhängen. Was heisst Gesundheit? Was Krankheit? Wer definiert die Begriffe und aus welchen Interessen heraus? Es ist fast ausgeschlossen, dass man Definitionen von Leitbegriffen wie Gesundheit nicht mit einem gewissen Interesse vornimmt. Es ist nur falsch, wenn man diese Interessen nicht mitreflektiert. Das leistet die politische Philosophie. Zudem kann sie die prinzipiellen Hintergrundthemen wach halten; also nicht nur das Streben des Menschen nach Glück und Gesundheit, sondern ebenso die Tatsachen des Todes, unserer Endlichkeit. So muss man nach dem Sinn von Massnahmen fragen, die ein Leben vielleicht nur um ein paar Wochen verlängern. Das wird heute besser verstanden als früher; man geht vermehrt in Richtung Palliativmedizin. Aufgabe der Philosophie war es schon immer, ans Sterben zu erinnern und das gute Sterben mitzubedenken. Die Philosophie muss also erstens die Leitbegriffe reflektieren, zweitens darüber nachdenken, was das menschliche Dasein ausmacht, und drittens konkrete Bezüge zu Gegenwartsproblemen schaffen.

Die Grenzen des technisch und finanziell Machbaren sind in der Schweiz relativ weit gesteckt. In einem Entwicklungsland sieht das anders aus.

Ja, in der Schweiz leben wir ein hoch privilegiertes Leben. Aus Sicht des Gesundheitswesens ist sie schlicht ein Paradies, selbst im europäischen Vergleich. Um es etwas pointiert zu sagen, unsere Glückseligkeit hängt leider auch davon ab, wie sehr wir fähig sind, das Leiden der Armen zu vergessen. So oder so: Es ist wichtig zu vergleichen.

«Unsere Glückseligkeit
hängt leider auch davon ab, wie sehr wir fähig sind,
das Leiden der Armen zu vergessen.»

Das US-amerikanische Gesundheitswesen zum Beispiel kostet relativ gesehen gleich viel wie das schweizerische, ist aber viel weniger effizient. Es ist seine Markt- und Gewinnorientierung, die es so kostspielig macht. Markt ist also im Gesundheitswesen nicht per se effizient und Gerechtigkeitspostulate müssen es nicht teurer machen als Marktimpera­tive.

Mit steigendem Wohlstand wächst der Anspruch an medizinische Leistungen. Das fördert gleichzeitig die gesundheitliche Ungleichheit.

Das schweizerische Gesundheitswesen folgt dem Motto, dass man alles allen anbieten muss und von allem immer das Beste. Das kann nicht immer so weiter gehen. Man muss gewisse Unterschiede zulassen. Unsere Gesellschaft ist ja auch bereit, auf anderen Gebieten ein gewisses Mass an Ungleichheit zu akzeptieren – aus guten und aus schlechten Gründen. Gerechtigkeit einfach mit Gleichheit zu identifizieren ist falsch. Eine primäre Aufgabe jeder Gerechtigkeitstheorie besteht darin, das Mass für gerechte Ungleichheit zu finden.

Die Schweizer Bevölkerung wird immer älter, viele Menschen gehen kerngesund in Rente. Die gute Gesundheit der Schweizer Bevölkerung deutet darauf hin, dass das Gesundheitssys­tem – das heisst das Zusammenspiel von staatlicher Intervention und Prävention und individueller Verantwortung – bis jetzt gut funktioniert hat.

Ja, mit Betonung auf bis jetzt. Die grosse Errungenschaft der Schweiz – die direkte Demokratie – ist letztlich gebunden an eine gewisse politische Kultur der Solidarität, also u.a. an die Ausgleichsmassnahmen des Sozialstaates. Das dafür notwendige Solidaritätsdenken scheint mir heute weniger ausgeprägt als früher. Ich kritisiere damit keineswegs nur den Egoismus der Bessergestellten! Nach dem Studienabschluss habe ich seinerzeit ein Jahr warten müssen, bis ich meine Assistenzstelle antreten konnte. Aber mir wäre es im Traum nicht eingefallen, mich für diese Zeit beim Arbeitslosenamt anzumelden. Heute ist das gang und gäbe. Es gibt überall eine Tendenz, die Angebote des Staates nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Solidarität, sondern unter dem von purem Eigennutz zu sehen. Es regiert die Haltung «Ich zahle Versicherung, also profitiere ich auch davon». Wir sollten also dafür sorgen, dass die staatlichen Angebote nicht überbeansprucht werden.

Bei der Vorsorge und Gesundheitsförderung geht es neben den Rechten des Einzelnen auch um gewisse Pflichten. Inwiefern wird der Solidaritätsgedanke hier umgesetzt?

Prävention ist gleichheitsorientiert und versucht, der Bevölkerung zu einem besseren Gesundheitsstandard zu verhelfen. Normativ und analytisch gesehen, spricht vieles für Prävention. Ich weiss aus Gesprächen mit Prof. Felix Gutzwiller, wie sehr Gesundheit mit sozialem Status, Einkommen und Bildung zusammenhängt.

 «Die Niederlage des Präventionsgesetzes darf aber nicht bedeuten, dass man auf Prävention verzichten soll. »

Also haben sozialstaatliche Massnahmen ihre Berechtigung. Auf der anderen Seite verstehe ich auch, dass man sauer wird, wenn man das Gefühl hat, dass einem ständig etwas vorgeschrieben wird. Aus diesem Unbehagen heraus wurde wohl das Präventionsgesetz bachab geschickt.  Das hat aber auch mit einer grundsätzlichen Einsicht zu tun: Der Staat kann nicht alle glücklich machen. Er kann höchstens Rahmenbedingungen dafür schaffen. Zweitens, wie schon gesagt: Die staatlich-administrative Macht hat ihre eigenen Interessen, die sich nicht immer mit jenen der Bevölkerung decken. Das heisst: Der wohlmeinende paternalistische oder maternalistische Geist der Verwaltung geht manchen nicht ohne Grund auf den Wecker. Die Niederlage des Präventionsgesetzes darf aber nicht bedeuten, dass man auf Prävention verzichten soll.

Wie stark ist der Einzelne, wie stark der Staat für die Gesundheit verantwortlich?

Zunächst ist jeder für sich selber verantwortlich. Das ist das liberale Prinzip der positiven und negativen Autonomie. Am Ende muss jeder und jede selber wissen, wie viel er/sie trinkt und raucht, um ein Beispiel zu nennen. Es gibt ja auch ein Recht, sich selbst zu zerstören. Aber daraus folgt sofort die Frage, inwiefern diese Selbstzerstörung oder Selbstgefährdung der Gesellschaft jeweils schadet. Denken wir nur an Extremsportler, die ja dann doch gerettet werden wollen, wenn sie einen Unfall haben. Die Gesellschaft kommt also sehr schnell ins Spiel, wenn es darum geht, die Konsequenzen der Selbstgefährdung mitzutragen. Hier geht es natürlich wieder um Solidarität. Zu beachten ist, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen von Solidarität gibt. Die Schweden haben bekanntlich ein ausgeprägtes Solidaritätsbewusstsein und bezahlen das mit hohen Steuern. Anders in den USA. Dort sind etwa fünfzig Prozent der Bevölkerung dafür, dass der Staat sich möglichst wenig einmischt. Bei uns ist der Staat immer die «res publica» gewesen, die öffentliche Sache, die uns alle angeht. Solidarität existiert natürlich auch in den USA, aber auf privater Community-Basis. In der Schweiz hält man die Staatsmacht also eher dazu berechtigt, Fragen wie Prävention zu thematisieren, die ins Privatleben eingreifen.

Dies führt dann aber auch zu fragwürdigen Situationen. Zum Beispiel bezahlt die Schweiz einerseits etwa 15 Millionen Franken Subventionen an die Tabakbauern und gibt  andererseits etwa 15 Millionen Franken für die Tabakprävention aus.

Ja, das klingt auf den ersten Blick seltsam. Aber Staaten handeln erstens immer in komplexen Zusammenhängen, in denen Gegenläufigkeiten nicht zu vermeiden sind.  Zweitens produzieren solche Gegenläufigkeiten oft gar nicht eigentliche Widersprüche. Die Situation, die Sie schildern, ist nämlich gar kein wirklicher Widerspruch, sondern eine Situation der Gegenläufigkeit. Denn sowohl die Ausgaben für die Tabakbauern als auch  die Ausgaben für die Tabakprävention sind legitim und heben sich nicht auf. Warum? Liberale Präventionspolitik kann nicht einfach darin bestehen, dafür zu sorgen, dass überhaupt nicht mehr geraucht werden darf.

In der Schweiz gibt es 26 verschiedene Gesundheitssysteme. Ist das aus Ihrer Sicht nicht fragwürdig?

Das ist der Preis, den wir für den eidgenössischen Föderalismus bezahlen. Und dieser Preis ist gerechtfertigt. Gewiss lässt sich darüber streiten. Vor etwa zehn Jahren gab Avenir Suisse eine Studie zum «Kantönligeist» heraus. Die Hauptaussage war: Der eidgenössische Föderalismus führt zu schlechter Politik. Manchmal stimmt das. Etwa dann, wenn er Formen des Steuerwettbewerbs erzeugt, die das Bundesgericht aus Verfassungsgründen korrigieren muss. Aber wir dürfen unsere Tradition und Geschichte nie vergessen. In der Schweiz meint man ja immer noch den Kanton, wenn man «Staat» sagt. Und zu unserer politischen Kultur gehört wesentlich das Subsidiaritätsprinzip. Nur das klar Notwendige soll nach oben delegiert und vom Bund geregelt werden. Das darf allerdings nicht heissen, dass man in der heutigen Gesundheitspolitik nicht genau darüber nachdenken soll, was eben doch – themenspezifisch – Bundessache sein muss.

Wer soll diese Situationen ansprechen? Der Staat hat ja kein Interesse daran, den Status quo zu ändern.

Mit «Staat» meinen Sie jetzt wohl den «Kanton». Bundesrat Berset müsste aktiv werden und seine Vereinheitlichungsvorstellungen den Räten vorlegen.

«Bundesrat Berset müsste aktiv werden und seine Vereinheitlichungs­vorstellungen den Räten vorlegen.»

So oder so: Neue Institutionen sind stets mit der Evolution der Gesellschaft verknüpft. Und es ist offensichtlich, dass mögliche institutionelle Defizite des Föderalismus durch den Bund und seine Exekutivbehörden auf die Traktandenliste gesetzt werden müssen. Nicht zu vergessen aber ist die Tatsache, dass erzwungene Lösungen selten gute Lösungen sind.Bei allem ist nicht zu leugnen, dass mit der heutigen Bevölkerungsentwicklung viele bestehende Regelungen die bevölkerungsstarken Kantone benachteiligen. Die knapp 16 000 Appenzell-Innerrhoder sollten sich ihres Privilegs gegenüber etwa 1,4 Millionen Zürchern bewusst sein und manchmal an die Interessen der Mehrheit denken.

«Die knapp 16 000 Appenzell-Innerrhoder sollten sich ihres Privilegs gegenüber etwa 1,4 Millionen Zürchern bewusst sein und manchmal an die Interessen der Mehrheit denken.»

Föderalismus ist also wertvoll, zugleich aber eine ewige Baustelle. Ein für allemal richtig ist hier nichts. Es fragt sich zum Beispiel, ob man in St. Gallen und in Herisau je ein Spitalzentrum braucht. Politik verlangt stets Entscheidungen, und manchmal ist es auch gut, wenn die Mehrheit die Minderheit überstimmt.






Medizin im Spiegel des Fortschrittes

Gemäss Georg Kohler verändert der medizinische Fortschritt auch die Definition von Gesundheit resp. Krankheit. Je mehr medizinische Möglichkeiten es gibt, desto mehr Leiden werden als potenziell heilbare Krankheit wahrgenommen. Kohler unter­scheidet in puncto Fortschritt drei Medizinwelten:

– In der «Masern»-Welt steht die Wiederherstellung akut kranker bzw. verletzter Patienten im Vordergrund – «Gesundheit» ist hier gleichbedeutend mit dem Lindern des Leidens. In Industrieländern gehört diese Medizin der Vergangenheit an.
 
– In der (selbstredend nur in Industriestaaten vorkommenden) «Maserati»-Welt werden wie in der «Masern»-Welt akute Leiden geheilt. Dafür kommen aber ausschliesslich modernste Mittel und Technologien zum Einsatz, und zwar auch für jede vermutete Besserungsmöglichkeit (z.B. Lipidhemmer). Diese «bestmögliche aller medizinischen Versorgungen» steht in der «Maserati»-Welt allen gleicher­massen zur Verfügung.

– In der «Madonna»-Welt dehnt die Medizin ihr Wirkungsfeld systematisch aus: Was technisch möglich und wirtschaftlich interessant ist, wird gemacht; der unvollkommene Mensch ist stets verbesserungswürdig. Nach dem Motto «Tod dem Tod» wird dann selbst das Altern zur Krankheit erklärt, und der ewig junge Popstar Madonna wird so zur Patronin dieser letztlich un-menschlichen Weltanschauung.

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